Trotz verbesserter Heilungschancen ist Krebs nach wie vor die zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Wie sieht die aktuelle Situation von Krebspatienten aus? Ist Krebs tatsächlich in absehbarer Zeit heilbar und mit welcher Art von Langzeitfolgen ist zu rechnen?
Prof. Uwe Martens, Direktor der Klinik für Innere Medizin III mit den Schwerpunkten Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin am SLK-Klinikum Heilbronn und Leiter des Tumorzentrums Heilbronn-Franken sowie Vorstandsvorsitzender des Krebsverbandes Baden-Württemberg gibt anlässlich des Weltkrebstages 2020 Einblicke in die Welt der Krebsmedizin.
Herr Prof. Martens, wie würden Sie die aktuelle Situation von Krebspatienten beschreiben?
Durch den demografischen Wandel wird es immer mehr Krebserkrankungen geben. Aber die Fortschritte in der Krebsforschung durch neue Immuntherapien sind wirklich revolutionär, so dass immer mehr Patienten geheilt werden können. Mit der Zunahme der „Krebsüberlebenden“ nimmt jedoch auch die Anzahl der Menschen zu, die mit Langzeitfolgen leben müssen. Sie sind von ihrer Krebserkrankung geheilt, aber trotzdem nicht gesund. Körperliche Einschränkungen oder Folgen der Therapie mindern die Lebensqualität.
Können Sie das genauer erklären?
Es kommen oft auch seelische Probleme hinzu. Etwa die Angst vor einer erneuten Erkrankung oder einer veränderter Selbstwahrnehmung des Körperbilds. Auch soziale Folgen können die ganze Familie mit betreffen, denn durch die Erkrankung hatte sich der ursprüngliche Lebensplan schlagartig verändert. Der erlernte Beruf kann nicht weiter ausgeübt werden. Auch finanzielle Sorgen und Existenzängste erschweren die Gesamtsituation erheblich. Dieses Thema betrifft besonders junge Menschen, die „mitten im Leben“ stehen. Glücklicherweise rücken die jungen Betroffenen zunehmend in den Blick der Öffentlichkeit und sensibilisieren diese für das Thema der Langzeitfolgen nach einer Krebstherapie.
Jens Spahn sagte, Krebs sei in 10 Jahren heilbar. Wie lautet Ihre Meinung?
Diese Aussage vernachlässigt die Tatsache, dass man unter Krebs eine Vielzahl von unterschiedlichen Erkrankungen versteht. Auch zeigen sich individuelle Unterschiede von Patient zu Patient mit der gleichen Erkrankung, wie beispielsweise Lungenkrebs, was mit unterschiedlich veränderten Genmustern der Tumore zusammenhängt. Ich bin jedoch überzeugt, dass wir die Heilungsraten durch personalisierte Therapieansätze kontinuierlich verbessern und fortgeschrittene Krebserkrankungen immer öfter in chronische Erkrankungen überführen können.
Die Politik und Öffentlichkeit beschäftigen sich verstärkt mit der Digitalisierung in der Medizin. Wie ist dieses Thema in der Krebsmedizin einzustufen?
Die Digitalisierung wird einen erheblichen Einfluss auf zukünftige Behandlungen von Krebserkrankungen haben. Dies betrifft beispielsweise die immer besser werdende Bildverarbeitung in der radiologischen Diagnostik sowie die molekulare Tumordiagnostik an Gewebeproben oder im Blut, bei der durch komplexe Analysen von tausenden von Genen Schwachstellen im Genmuster entdeckt werden können, die dann einen individualisierten Therapieansatz ermöglichen sollen. Außerdem ist zu erwarten, dass durch digitale Hilfsmittel wie Apps eine bessere Erfassung der Lebensqualität möglich sein wird, so dass die Therapie noch spezifischer angepasst werden kann.
Was hat Sie bewogen, Vorsitzender des Krebsverbandes zu werden?
In Baden-Württemberg haben wir schon seit langem innovative Versorgungsstrukturen für Krebspatienten, die durch eine flächendeckende Bündelung der Kompetenzen von verschiedenen Berufsgruppen erfolgt, auf die wir auch stolz sein können. Diese Teamarbeit am Patienten fasziniert mich immer wieder sehr. Ich sehe in diesem Ehrenamt eine große Herausforderung sowie die Chance, die Perspektive von Krebspatienten kontinuierlich zu verbessern.
Apropos Verbesserungen - gibt es mittlerweile ein langfristiges Konzept zur Finanzierung der Ambulanten Krebsberatungsstellen?
Trotz der Tatsache, dass 2016 das Ministerium für Soziales und Integration die Anschubfinanzierung für den Ausbau von ambulanten Psychosozialen Krebsberatungsstellen in Baden-Württemberg gestartet hat, gibt es bis heute lediglich nur jährliche Regelungen und Finanzierungskonzepte. Eigentlich bestand Konsens, die psychosozialen Krebsberatungsstellen im Jahr 2020 als Regelleistung einzuführen, wozu jedoch immer noch keine Einigung zur Finanzierung erzielt werden konnte. Dieser Umstand macht mich immer wieder sprachlos, da von verschiedenen Seiten wiederholt nur Absichtserklärungen aber keine Umsetzungsinitiativen erfolgt sind. Aber als Onkologe ist man grundsätzlich optimistisch eingestellt, und die Hoffnung stirbt zuletzt!